Herzstück der Genossenschaft
Ein Plädoyer für das Identitätsprinzip
-
Was macht das Wesen einer Genossenschaft aus? Am häufigsten wird dabei die Förderung der Mitglieder genannt. Allerdings gibt es auch gute Gründe, das Identitätsprinzip, also die Übereinstimmung von Mitglied und Geschäftspartner, ins Zentrum zu rücken. Über die Bedeutung dieses Wesensmerkmals und die Strategien zu dessen Stärkung. Eine eingehende Diskussion über das Wertesystem von Genossenschaften müsste zu der Frage führen, welches Prinzip für am wichtigsten zu halten ist. Aufschluss darüber könnte eine repräsentative Umfrage unter Genossenschaftsleitern aller Wirtschaftszweige bringen, in denen Genossenschaften tätig sind. Höchstwahrscheinlich würde die Förderung der Mitglieder weitaus am häufigsten genannt. Dafür sprechen das Genossenschaftsgesetz, Mustersatzungen und die einschlä-gige Literatur, die der Mitgliederförderung den Rang des obersten und dauernd gültigen Genossenschaftsprinzips zuweisen. Man darf der Meinung sein, dies sei hinreichend bekannt und nicht der Erwähnung wert. Gäbe es da nicht den ebenfalls im genossenschaftlichen Schrifttum vertretenen, aber weniger verbreiteten konträren Standpunkt, für die Genossenschaften sei vielmehr das Identitätsprinzip wesensbestimmend. Die Begründung hierfür lautet: Wegen fehlender Operationalität und mangelnder Eindeutigkeit ist der genossenschaftliche Förderungsauftrag nicht als Leitmaxime tauglich, wohingegen das Identitätsprinzip eine Spezifizierung zu bieten hat. Daher sei es opportun, diesen Grundsatz als wichtigstes Identifikationsmerkmal einer Genossenschaft herauszustellen. Diese überlieferte Streitfrage regt dazu an, die heutige Bedeutung des zu den genossenschaftlichen Wesensmerkmalen zählenden Identitätsprinzips zu überdenken. Der Kern des Identitätsprinzips Was besagt dieser Grundsatz? Zwischen den Mitgliedern und ihrer Genossenschaft besteht eine Dreifachverbindung: Die Mitglieder sind sowohl Miteigentümer des Gemeinschaftsunternehmens und Mitträger der Willensbildung und Kontrolle als auch Geschäftspartner des Gemeinschaftsbetriebs (Kunde oder Lieferant) und durch Einbringung ihrer Geschäftsguthaben Kapitalgeber. Dies trifft besonders auf die in der Praxis am häufigsten vorkommenden Wirtschaftsgenossenschaften des Typs „Förderungsgenossenschaft“ zu. Lassen wir die obligatorisch mit jedem Mitgliedschaftserwerb verbundene Kapitalgeberfunktion beiseite, so ist dieser Genossenschaftsart das Identitätsprinzip einer Übereinstimmung von Mitglied und Geschäftspartner zugedacht. Die Mitgliederwirtschaften (Haushalte, Unternehmen) sollen über Leistungsbeziehungen mit dem Gemeinschaftsunternehmen gefördert werden. Erst dadurch, dass das Mitglied eine Geschäftspartnerschaft mit seiner Genossenschaft eingeht, wird es dieser möglich, ihren Förderungsauftrag zu erfüllen. Mitgliederförderung beruht insofern auf dem Identitätsprinzip. Dessen Befolgung soll den Mitgliedern Kooperationsnutzen (Member Value) verschaffen. Abweichungen in der Praxis Am häufigsten wird das Gleichsein von Träger und Kunde im Nichtmitgliedergeschäft durchbrochen, das mit unterschiedlich hohen Anteilen am Geschäftsvolumen der Genossenschaften in fast allen Sparten anzutreffen ist. Ein Leistungsaustausch mit externen „Nur-Kunden“ nicht nur in Ausnahmesituationen, sondern durchgehend in großem Stil stellt den Sinn der Mitgliedschaft und der systemimmanenten Mitgliederorientierung einer Genossenschaft infrage. Von besonderem Interesse sollte daher sein, welche Umstände und Argumente ein ausgedehntes Dritt- oder „Fremdgeschäft“ rechtfertigen könnten. In der Praxis kommt es auch vor, dass Mitglieder dauerhaft keine Leistungsbeziehungen zu ihrer Genossenschaft unterhalten und dies bei Erwerb der Mitgliedschaft von ihnen auch nicht beabsichtigt war. Nur „kapitalverwertende“ Mitglieder treten etwa einer Bankgenossenschaft bei, um über dem Kapitalmarktzins liegende Dividenden auf das eingebrachte Beteiligungskapital (Geschäftsguthaben) zu beziehen. Im Extremfall bleibt die Verbindung zum Kooperativ auf das finanzwirtschaftliche Beziehungssegment begrenzt. Eine weitere Teilgruppe bilden Mitglieder, die zunächst Leistungsbeziehungen zu ihrer Genossenschaft unterhielten, diese jedoch in der Folgezeit reduzierten und schließlich einstellten. Sie hatten entweder keinen Bedarf mehr an Leistungen der Art, wie sie von ihrer Genossenschaft angeboten wurden, oder sahen ihre Förderinteressen nicht genügend gewahrt. Von der Mitglied-Nutzer-Identität entfremdete Mitglieder machen von der Möglichkeit Gebrauch, auf alternative, mit der Genossenschaft konkurrierende Unternehmen auszuweichen. Vom Identitätsprinzip her sind diese beiden Mitgliederkategorien als „Formal- oder Pseudomitglieder“ zu bezeichnen. Der genossenschaftliche Freiwilligkeitsgrundsatz erlaubt es, von vornherein auf einen Leistungsaustausch zu verzichten bzw. die geschäftliche Beziehung zum Genossenschaftsunternehmen aufzugeben, jedoch weiterhin Mitglied zu bleiben. Ebenfalls atypisch und der Kategorie der Nichtkunden-Mitglieder zuzuordnen sind die „investierenden Mitglieder“, deren Zulassung zur Aufweichung des Identitätsprinzips beiträgt. Ihre Besonderheit besteht darin, dass für sie ein Fördergeschäftsverkehr mit der Genossenschaft und damit ein Wechsel zum Kreis der nutzenden Mitglieder zwar durchaus möglich wäre, aber aktuell nicht in Betracht kommt. Und schließlich kann es sein, dass eine Genossenschaft ihren Mitgliedern in der Position von „Geschäftspartneranwärtern“ kapazitätsbedingt noch nicht die nachgefragte Leistung anbieten kann. Wohnungsgenossenschaften räumen Wohnungssuchenden mitunter die Möglichkeit ein, die Mitgliedschaft einzugehen, um eine Anwartschaft auf eine erst zu einem späteren Zeitpunkt realisierbare Zuteilung zu erwerben. Erst mit der Wohnraumüberlassung wird dem Identitätsprinzip entsprochen. Ursachen für diese Entwicklung Wenn einzelne Wesensprinzipien in der Praxis nicht mehr streng befolgt werden, ist darin kein Grund zu sehen, diese zentralen Elemente genossenschaftlicher Eigenart als „historischen Ballast“ zu empfinden und ihnen wenig Beachtung zu schenken. Das gilt auch für das Identitätsprinzip. Wenn davon auf vielfältige Weise abgewichen wird, ändert dies nichts daran, dass es sich um ein bedeutendes Identifikationsmerkmal und Konstruktionselement der genossenschaftlichen Unternehmensform handelt. Da allen Genossenschaften der Zweck zugewiesen ist, ihre Mitglieder über Leistungsbeziehungen zu fördern, was die Inanspruchnahme angebotener Leistungen durch die Mitglieder bedingt, kann auf dieses Wesenselement nicht verzichtet werden. Unverkennbar fällt es in bestimmten Sparten des Genossenschaftssektors und Wettbewerbssituationen schwer, das Identitätsprinzip einzuhalten. Demzufolge wird mit diesem Grundsatz spartenweise unterschiedlich verfahren. Während bei berufsbezogenen „Unternehmergenossenschaften“ (gewerbliche, landwirtschaftliche) und Wohnungsgenossenschaften die Personengleichheit von Mitglied und Geschäftspartner weitgehend erhalten blieb, sind bei Bank- und Konsumgenossenschaften Lücken in den leistungsmäßigen Beziehungen zwischen Mitglied und Genossenschaft deutlich stärker ausgeprägt. Ursachen für die vielfältige Abkehr vom Identitätsprinzip sind bei den Mitgliedern und bei den Genossenschaften zu suchen. Von wesentlichem Einfluss auf der Mitgliederseite dürfte vor allem das Freiwilligkeitsprinzip sein, das zulässt, die Mitgliedschaft ausschließlich zur Kapitalanlage zu nutzen. Zum Verzicht auf eine Frequentierung des gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebs regt zudem eine Branchenstruktur an, die es ermöglicht, als Kunde zu Mitbewerbern der Genossenschaft zu wechseln. „Fremdablenkung“ der Mitglieder durch Konkurrenten ist in der Regel das Ergebnis eines Kosten-Nutzen-Vergleichs, der die Genossenschaft zumindest zeitweise für bestimmte Programmteile als weniger vorteilhaft erscheinen lässt. Dem Identitätsprinzip abträgliches Mitgliederverhalten kann zusammentreffen mit Austauschbarkeit des Mitgliedes als Geschäftspartner gegen Nichtmitglieder-Kunden durch eine Marketingpolitik der Genossenschaft, die nicht mehr deutlich zwischen Mitglied und Nur-Kunde unterscheidet. Strategien zur Stärkung des Identitätsprinzips Für eine in Abhängigkeit von der konkreten Situation einer Genossenschaft gewollte Einschränkung erörterter Abweichungen vom Identitätsprinzip stehen ihrem Management diverse Handlungsweisen zur Verfügung: Damit das Nichtmitgliedergeschäft nicht ausufert und mit dem Wesen einer Genossenschaft unvereinbar wird, ist als Leitlinie zu empfehlen: Leistungsbeziehungen zu Dritten sollen das Zweckgeschäft mit Mitgliedern lediglich ergänzen, zur Steigerung des Förderpotenzials beitragen und/oder als Mittel zur Werbung neuer Mitglieder dienen. Nicht wenige Genossenschaften, die ein umfangreiches Fremdgeschäft unterhalten, haben es bislang versäumt, Nur-Kunden, die sich während einer angemessen langen Zusammenarbeit als „wertvolle“ Geschäftspartner erwiesen haben, die Mitgliedschaft anzubieten. Diesbezüglich besteht vielerorts Handlungsbedarf. Eine Verlagerung vom Nichtmitglieder- zum Mitgliedergeschäft durch gezielte Akquisition neuer Mitglieder aus dem Kreis der Nur-Kunden wäre ein wichtiger Schritt in Richtung Wertschätzung des Identitätsprinzips. Ebenso sollten Genossenschaften bemüht sein, nur „kapitalverwertende“ Mitglieder (sog. Dividendenjäger) und vom Kooperativ entfremdete Mitglieder zur Aufnahme bzw. Neubelebung der geschäftlichen Zusammenarbeit zu motivieren. Bei diesbezüglich ausbleibendem Erfolg legen vereinzelt Bankgenossenschaften ihren Dauer-Nichtkunden-Mitgliedern nahe, ihre Mitgliedschaft aufzugeben, falls keine Möglichkeit oder kein Interesse an Leistungsbeziehungen zum Genossenschaftsunternehmen besteht. Schließlich sollte eine Zulassung von „Investorenmitgliedern“ nur ausnahmsweise erfolgen, wenn benötigtes Beteiligungskapital auf andere Weise nicht zu beschaffen ist. Aus gleichem Grund wäre auf die Aufnahme von „Geschäftspartneranwärtern“ in den Mitgliederkreis zu verzichten, solange noch kein Wohnraum überlassen werden kann, und es bei einem Führen als Nichtmitglieder auf einer Warteliste zu belassen. Von diesen Maßnahmen gehen eine gewisse Annäherung an das Identitätsprinzip und eine Aufwertung des Mitgliedschaftsgedankens aus, die geeignet sind, unverwechselbare Genossenschaftsidentität zu sichern und Herausforderungen des Marktgeschehens zu begegnen. Dazu muss für vorhandene und potenzielle Mitglieder die Mitgliedschaft lohnend sein. Letztlich entscheidet die wahrgenommene Fördereffizienz über das Interesse an der Mitgliedschaft und den nachhaltigen Geschäftskontakt zur Genossenschaft. Günther Ringle